KURIER-Herausgeberin Martina Salomon traf sich mit Rektorin Andrea Kurz zum großen Videointerview.
KURIER: Sie haben international gearbeitet. Worin ist die österreichische Medizin vergleichsweise gut?
Andrea Kurz: Sie ist gut in der Basisversorgung für die gesamte Bevölkerung. Wir haben sehr gute Forschung, aber als kleines Land natürlich weniger Ressourcen als etwa die USA zur Verfügung.
Ist das allgemeine Gesundheitswesen in den USA wirklich so viel schlechter als bei uns?
Es ist nicht mehr so schlecht, wie früher einmal angenommen, weil preiswertere Versicherungsmöglichkeiten geschaffen wurden. Aber nach wie vor sind 30 Prozent der Amerikaner nicht krankenversichert.
Bei uns nehmen auch immer mehr Menschen Privatmedizin in Anspruch. Die Uniklinik Graz hat im Jänner 2023 verlautbaren lassen, nicht alle Patienten aufnehmen zu können.
Eine echte Zwei-Klassen-Medizin gibt es dennoch nicht. Die Qualität der Versorgung ist an allen Häusern sehr gut.
Ja, wenn man einen Herzinfarkt erleidet. Aber auf einen nicht lebensnotwendigen Eingriff wartet man manchmal ewig.
Vollkommen richtig. Das müssen wir akut angehen.
Wie geht das? Sie haben ja selbst gesagt, es gebe genügend Ärzte, nur die Verteilung stimme nicht.
Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das stimmt. Wir haben genügend Studienplätze, das ist nicht gleichbedeutend mit genügend Ärzten – speziell mit dem Teilzeit-Trend. Wenn alle Vollzeit arbeiten würden, hätten wir wahrscheinlich genug Ärzte.
Gibt es zu viele Wahlärzte?
Wahrscheinlich ist die Zunahme problematisch.
Herrscht nicht in erster Linie Pflegemangel? An der Wiener Uniklinik sind viele OP-Säle deshalb gesperrt, und an der Grazer Uniklinik hieß es einmal, dass 200 Pfleger fehlen.
So viele fehlen jetzt nicht mehr, aber wir haben deshalb nach wie vor Bettenschließungen. Das ist ein gravierendes Problem.
Vor mehr als 100 Jahren hatte die Wiener Medizinische Schule Weltruf. Können die heimischen Medunis da je wieder anzuschließen?
Wir können wieder internationalen Ruf bekommen, und zwar durch Kooperation der Medizinunis untereinander, aber auch durch Zusammenarbeit mit anderen Universitäten, etwa der Technik. Das ist auch als Industriestandort Österreich wichtig.
Eine Uni, speziell eine Med Uni, ist immer auch eine Ansammlung von Diven und Eitelkeiten. In diesem politischen Spiel sind Sie als Außenseiterin für den Rektorsposten zum Zug gekommen. Wie geht’s Ihnen damit, nun Managerin statt Wissenschafterin zu sein?
Ich glaube, es ist gut, dass ich als Außenseiterin gekommen bin, weil ich neue Perspektiven einbringe, weil ich manches anders sehe, weil ich nicht verwickelt bin in irgendwelche Dinge. Mit diesem freien Blick kann man sehr viel tun.
An der Grazer Neurochirurgie gab es Mobbingvorwürfe, es gibt einen Untersuchungsbericht über Studien ohne Wissen der Patienten, Geldflüsse von einer Pharmafirma, und es geht auch um die Beteiligung einer 13-Jährigen an einer OP. Wie lösen Sie die Probleme?
Indem man sie sehr gut untersucht. Die Studie zum Beispiel war nicht so problematisch, wie kolportiert. Alles andere wird noch geprüft. Fehlverhalten darf natürlich nicht vorkommen.
Sie haben in Ihrer Antrittsrede in Graz gesagt: „Jeder Einzelne von uns muss sich der Möglichkeit und Verantwortung bewusst sein, zur Verbesserung der Gesellschaft beizutragen.“ Sie klingen manchmal recht unösterreichisch.
Ja – als ich heuer nach fast 27 Jahren aus den Vereinigten Staaten zurückkam, habe ich bemerkt, dass manches, was ich sage oder denke, nicht ganz ins hiesige Bild passt. Aber wenn wir unser Gesundheitssystem verbessern wollen, brauchen wir Veränderungen. Und ich bin davon überzeugt, dass wir alle eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft haben. Das meine ich wirklich ernst.
Steht das unter dem legendären Kennedy-Motto: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt“?
Ja.
Wie verändert sind Sie nach 27 US-Jahren?
Ich habe gelernt, Optionen zu sehen. Ich habe gelernt, frei und innovativ zu denken. Wenn ich mir also jetzt ein Projekt ausdenke, dann überlege ich, wie ich es verwirklichen kann und nicht zuerst, was die Hindernisse sind.
Das wäre österreichisch?
Genau.
Werden Sie mehr als eine Rektoratsperiode bleiben?
Vier Jahre sind eine kurze Zeit, um eine Art Kulturwandel zu initiieren.
Von wo weg wohin?
Von einem eher engstirnigen Denken, in dem das Ich eine sehr große Rolle spielt, zu einem offenen, gemeinschaftlichen innovativen Vorgehen, in welchem Veränderungen als Möglichkeiten betrachtet werden.
Ist Frauenförderung an der Meduni noch immer notwendig?
Sie ist sehr notwendig. Obwohl mehr als 50 Prozent der Meduni-Studierenden weiblich sind, haben wir nach wie vor nicht ausreichend Frauen in Führungspositionen.
Wird die Künstliche Intelligenz Personalprobleme lösen?
Ja, ich glaube, dass KI eine große Rolle spielen wird, auch die Telemedizin. Das hilft, Prozesse zu verbessern und eine personalisiertere Medizin zu betreiben.
Eine Frage an Sie als Anästhesistin: Stimmt es, dass Narkosen dem Gehirn schaden?
Moderne Narkotika wirken relativ kurz und verschwinden schnell aus unserem System. Aber allein durch einen chirurgischen Eingriff gibt es eine Entzündungsreaktion des Körpers. Und diese löst dann eine Veränderung am Patienten aus – mehr als die Narkose.
Sie stehen jeden Tag um 4.30 Uhr auf. Warum so bald?
Ich genieße die Ruhe in der Früh. Der Morgen ist für mich die schönste Tageszeit.
Wenn man in Österreich Karriere im öffentlichen Bereich macht, wird man meist politisch zugeordnet. Wo stehen Sie?
Ich bin nirgendwo zugeordnet – und wenn ich mich beschreiben würde: Zumindest in den USA war ich auf der demokratisch-liberalen Seite.
Sie freuen sich also nicht über den Trump-Sieg.
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was das für eine Enttäuschung für mich ist.
Wird das US-Gesundheitssystem darunter leiden?
Es wird extrem leiden – nicht nur das Gesundheitswesen, sondern auch die Forschung. Vielleicht ist das sogar eine Chance für den europäischen Standort: Weil Spitzenforscher aus den USA wegwollen.
Die Wissenschaftsfeindlichkeit in Österreich ist aber womöglich schlimmer als in den USA.
Ich glaube, wir müssen viel mehr hinausgehen und die Gesellschaft informieren. Es passieren im Wissenschaftsbereich so viele tolle Dinge. Es liegt an uns, diese Skepsis zu beheben.
Wird die Medizin dafür sorgen, dass wir ewig leben werden?
Prävention und Therapien werden sich weiterhin verbessern. Aber ewig leben glaube ich nicht – und hoffe ich auch nicht.
Textnachweis: KURIER vom 24. November 2024. Das Interview führte KURIER-Herausgeberin Martina Salomon