Seit Anfang 2020 stehen wir im Bann der COVID-19-Pandemie. Maßnahmen fallen oder werden aufgeweicht und die Fallzahlen steigen wieder. Wissenschafter*innen rätseln, wieso manche Menschen lebensbedrohliche SARS-CoV-2-Verläufe entwickeln, manche Long COVID und andere kaum Erkrankungssymptome zeigen. Neben genetischen Konstellationen werden Immunabwehr, Lebensstil sowie Ernährungsgewohnheiten als mögliche Ursache diskutiert. Wissenschafter*innen der Med Uni Graz sind Indikator-Biomarkern auf der Spur, die zur Aufklärung dieser Fragen beitragen können. Nun publizierten sie im renommierten Journal „Antioxidants“ ihre neuesten Erkenntnisse zur Rolle von Vitamin K bei COVID-19.
COVID-19: Krankheitsverlauf als große Unbekannte
Allein Österreich zählt aktuell über 20 000 Todesfälle von Menschen, die mit oder an COVID-19 verstorben sind. Nach harmlosem Beginn einer SARS-CoV-2-Infektion kann sich bei manchen Erkrankten nach fünf bis vierzehn Tagen eine lebensbedrohliche Lungenentzündung entwickeln. Dieser schwere Krankheitsverlauf kann jede*n treffen, bevorzugt Menschen mit Vorerkrankungen, aber auch gesunde, junge Sportler*innen. Harald Mangge vom Klinischen Institut für Medizinische und Chemische Labordiagnostik der Med Uni Graz forscht an den Zusammenhängen zwischen Stoffwechsel und Immunabwehr und will verstehen, wieso SARS-CoV-2 bei bestimmten Menschen einen besonders schweren Verlauf nimmt. Er und seine Kolleg*innen wollen Biomarker finden, die mit einem schweren Krankheitsverlauf zusammenhängen, und bestenfalls auch präventive Maßnahmen ermöglichen, um solche Verläufe zu verhindern. Eine aktuelle Publikation im renommierten Journal „Antioxidants“ zeigt nun neue Ergebnisse zu Vitamin K – ein Vitamin, das bisher in der COVID-19-Forschung kaum untersucht wurde.
Vitamin K: das vergessene und unterschätzte Vitamin
Vitamin K ist wie die Vitamine A, D und E ein fettlösliches Vitamin. Es kommt in der Natur als Vitamin K1 (Phyllochinon) und Vitamin K2 (Menachinon) vor. Phyllochinon ist vor allem in Grünpflanzen enthalten, Menachinon wird von Bakterien wie E. coli produziert, die auch im menschlichen Darm vorkommen. K2 ist die aktivere Form des Vitamins.
Vitamin K1 oder K2: Welche Form ist die beste?
Gerade wenn es um Knochen, Schutz der Blutgefäße und Bindegewebe bzw. Immunabwehr geht, ist Vitamin K2 im Spiel. Vitamin K1 wirkt hauptsächlich in der Leber. Es baut sich im Blut schnell ab. Vitamin K2 hingegen gelangt über das Blut zu den anderen Organen und bleibt auch lange im Blut aktiv. Bei Vitamin K2 wird zwischen verschiedenen Unterformen unterschieden: MK-4, MK-7 und MK-9. Am wertvollsten ist MK-7, es wird am besten aufgenommen und bleibt am längsten im Blut und übt so seine Schutzfunktion aus.
Wieso steht Vitamin K im Fokus der Grazer Wissenschafter*innen?
In Blutproben von Patient*innen der ersten und zweiten COVID-19-Welle „fahndeten“ die Grazer Forscher*innen nach möglichen Indikatoren, die bereits in der Frühphase der Erkrankung starke Veränderungen aufweisen. Dabei konzentrierte man sich neben bisher bekannten Laborparametern, wie beispielsweise Entzündungswerten, auf Stoffwechselprodukte und vorerst auf Vitamin D, wo aber kein Effekt auf COVID-19-Verläufe gefunden werden konnte.
Nicht zuletzt, weil eine gestörte Gerinnungsreaktion vielfach mit schweren COVID-19-Verläufen in Zusammenhang gebracht wurde, wandten sich die Grazer Wissenschafter*innen dann Vitamin K zu. Ein Faktor war auch, dass die Grazer Labormediziner*innen unter der Federführung von Andreas Meinitzer eine spezielle Methode zu einer verlässlichen Messung aller Vitamin-K-Subtypen entwickelt haben. Eine wichtige Rolle spielen Vitamin K1 sowie die K2-„Bausteine“ Menachinon-4 (MK-4) und Menachinon-7 (MK-7).
Der Vitamin-K2-Subtyp, Menachinon-7 (MK-7), im Zentrum der COVID-19-Erkrankung
Die zentrale Beobachtung war eine dramatische und spezifische Verminderung von Menachinon-7 bei Patient*innen mit schwerer COVID-19-Pneumonie im Vergleich zu Non-COVID-19-Pneumonie und gesunden Kontrollpersonen.
Was bedeutet das? Bezug nehmend auf die komplexen Funktionen von Vitamin K2 ist dies eine spannende Frage, die die Grazer Forscher*innen in Bann hält. Es gibt zwei Homologe, Menachinon-4 und Menachinon-7, die das Vitamin K2 formen. „Während die Wirkung von Vitamin K1 auf die Leber beschränkt bleibt, wo es bei der Formung von Gerinnungsfaktoren eine zentrale Rolle spielt, ist Vitamin K2 im Knochenstoffwechsel, im Herz-Kreislauf-System für Blutgefäße, bei chronischen Nierenerkrankungen, bei Nervenkrankheiten, Krebs und an der Immunabwehr beteiligt. Hinzu kommt noch, dass man nicht weiß, wie stark die Vitamin-K2-Komponenten MK-4 und MK-7 bei diesen Prozessen eine Rolle spielen. Faktum ist aber, dass MK-7 ständig über die Nahrung zugeführt werden muss und daher höchstwahrscheinlich der bestimmende Faktor ist“, führt Harald Mangge die Rolle von Vitamin K aus.
Wieso ist der Menachinon-7(MK-7)-Blutspiegel bei COVID-19-Pneumonie so niedrig?
Eine wichtige und im Zusammenhang mit COVID-19 relevante Rolle spielt MK-7 bei Gerinnungsfaktoren und dem Schutz von elastischen Fasern, die für eine gesunde Gewebsfunktion unter anderem in der Lunge wichtig sind. Die COVID-19-Pneumonie geht mit einem Entzündungssturm einher und verbraucht besonders viel MK-7. Was folgt, sind ein aus den Fugen geratenes Gerinnungssystem und strapazierte Faserproteine.
„Die massive Freisetzung von Entzündungsfaktoren im Zytokinsturm (eine Entgleisung des Immunsystems) in der Lunge setzt auch Enzyme frei, die den elastischen Fasern sozusagen den Rest geben. So wird das Lungengewebe unwiderruflich zerstört. Es ,zerren‘ bei der COVID-19-Lungenentzündung das MK-7-Defizit, Thromboseneigung, Gefäßschädigung und Hyperinflammation gemeinsam so stark am Lungengewebe, dass es k. o. gehen kann“, so Harald Mangge.
„Zusammenfassend scheint das MK-7-Defizit ein Verbindungselement zwischen COVID-19-Lungenentzündung, Gewebszerstörung und thrombotischer Gefäßfunktionsstörung zu sein. Somit ist auf jeden Fall eine gute Versorgung des Körpers mit Vitamin K2 positiv und sollte zu einer vermehrten Zufuhr von MK-7-haltigen fermentierten Nahrungsmitteln wie z. B. fermentierten Sojabohnen (Natto) motivieren“, schließt Harald Mangge die Beobachtungen seines Teams ab.
Steckbrief: Harald Mangge
Harald Mangge ist Labormediziner an der Med Uni Graz und forscht im Bereich Immunsystem, Lebensstil, Entzündung und Stoffwechsel. Im besonderen Fokus seiner Arbeiten stehen Biomarker bei schweren Systemerkrankungen, Übergewicht und Fettsucht. In zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten konnte er unter anderem die Bedeutung einer gestörten Kommunikation von Botenstoffen des Fettgewebes und des Immunsystems bei Folgeerkrankungen der Adipositas aufzeigen.