Andrea Kurz - Credit: Helmut Lunghammer

Andrea Kurz im Interview mit der Kleinen Zeitung

Wie oft haben Sie es schon bereut, dass Sie in Graz den Rektorsposten übernommen haben?

ANDREA KURZ: Bereut nie. Hinterfragt hin und wieder. Wenn ich einen neuen Job annehme, dann mit ganzem Herzen. Ich hinterfrage Dinge.

Was sind die markanten Wahrnehmungen Ihres ersten Jahres als Rektorin?

Ich glaube, dass wir vereinzelt noch Systeme und Prozesse haben, die nicht mehr zeitgemäß sind. Bei der Künstlichen Intelligenz und deren Einsatz sehe ich noch großes Potenzial. Man braucht lange, um Systemänderungen umzusetzen. Die erste Reaktion ist oftmals Nein, und Argumente, warum es nicht geht. Ich war es gewohnt, dass man ein Ziel hat, und alle nehmen dieses in Angriff. Mir fehlt hier ein bisschen die Freude an der Innovation. Ich versuche bei uns die Mitarbeiter*innen zur Offenheit und innovativem Denken zu motivieren, da wir die Kraft und die Zuversicht jedes einzelnen brauchen und das über alle Berufsgruppen, um uns weiterzuentwickeln. Ich wünsche mir eine andere Fehlerkultur, sodass wir aus Fehlern lernen können. Furcht und Angst haben keinen Platz. Das ist nicht nur in der Medizin so: Wir benötigen Selbstvertrauen. An unserer Uni passieren phänomenale Dinge, auf die wir stolz sein dürfen.

Sind Sie überrascht worden, dass dieser Mikrokosmos Graz solche Untiefen hatte? An einer Abteilung etwa hat man sich gegenseitig der Fehler bezichtigt, gegenseitig angezeigt. Haben Sie so ein Vorgehen gekannt?

Nein, das habe ich auch in den USA nicht gekannt, und ich war an Elite-Instituten.

Wie lange braucht man für einen Kulturwandel?

Wie wir miteinander umgehen, da spürt man schon etwas. Man braucht aber Jahre. Ich wäre froh, wenn ich nach acht Jahren – wenn ich so lange bleiben darf – einen Kulturwandel angestoßen habe, auch in unserer Fehlerkultur. Wir machen ja nicht Fehler, weil wir dumm sind, oder Fehler machen wollen. Die meisten Fehler entstehen durch das System, weil wir gedrängt werden. Wenn wir diese Fehler sehen und zugeben, dann haben wir eine Chance auch das System zu verbessern.

Wie groß ist der Spielraum, etwas gestalten zu können: Die aktuellen Stichwörter am Uniklinikum Graz sind doch Bettensperren, Pflegemangel.

Der Druck des Tages ist groß. Das Wichtigste in so einer Situation ist, den Spielraum zuzulassen, frei zu denken. Ich bin zum Beispiel nicht glücklich mit dem Arbeitszeitgesetz, da es in einigen Bereichen wenig Flexibilität zulässt. Ich kann es nicht ändern. In anderen Punkten kann man überlegen, was man tut – etwa beim Pflegemangel, dass man den Job attraktiviert. Ohne Personal aus anderen Ländern würden wir es ohnehin nicht mehr schaffen. Wir müssen „out of the box“ denken.

Sie waren jahrelang in den USA tätig: Trump dreht der Wissenschaft den Geldhahn zu. Wie sehen Sie die Situation?

Es ist ein Desaster, was da passiert. Kein Tag vergeht, ohne, dass etwas passiert. Bewilligte Forschungsprojekte bei großen Institutionen werden nicht behandelt und ausbezahlt, neue Forschungsprojekte werden nicht angeschaut, kommen nicht in den Bearbeitungsprozess. Das kann ganze Forschungslabore zum Stillstand bringen. Und das hat viele Auswirkungen. Für die Industrie, es werden Weiterentwicklungen verlangsamt. Für uns hätte die Situation vielleicht etwas Positives: Forscher*innen, die ihre Wurzeln in Europa haben, könnten wieder zurückkommen. Denn in der Situation drohen komplette Forschungskarrieren zu scheitern.

Sollte unsere Regierung tätig werden?

Wir hatten eine Sitzung der Universitätskonferenz und wir wollen von uns aus tätig werden, die besten Köpfe aus den USA für uns zu rekrutieren.

Bilden wir genügend Ärzt*innen aus?

In Bezug auf die Einwohnerzahl bilden wir in Österreich die größte Anzahl an Ärzt*innen im europäischen Raum aus. Wenn wir jetzt aber ins Kalkül ziehen, dass ein großer Anteil der Ärzt*innen Teilzeit arbeiten, und der Anteil von Frauen immer größer wird – wir gehen fast auf 60 Prozent zu, und viele davon arbeiten zumindest einige Jahre in Teilzeit – dann könnte es sein, dass wir nicht genügend Ärztinnen und Ärzte ausbilden. Wenn jeder Vollzeit arbeitet, in Österreich bleibt und nicht zur Industrie wechselt – dann hätten wir genügend Ärztinnen und Ärzte. Dies muss man allerdings im Kontext des demografischen Wandels und der rasanten Weiterentwicklung der Medizin evaluieren.

Aber das ist nicht das einzige Problem, vor dem Sie stehen. Die reduzierten Arbeitszeiten sind ein limitierender Faktor.

Das neue Arbeitszeitgesetz hat vieles getriggert. Mit der derzeit gültigen Regelung von 48 Wochenstunden können Operationssäle nur etwa ein Drittel des Tages genutzt werden. Unsere OPs sind eine teure Infrastruktur und sollten nicht zwei Drittel des Tages leer stehen. Das war etwas Neues für mich. In den USA redet man nicht einmal über Arbeitszeiten, da ging es darum, dass die Assistenzärzt*innen 80 Stunden Arbeitszeit pro Woche nicht überschreiten durften, was natürlich ein Extrembeispiel ist, das ich keinesfalls befürworte. Wenn wir die Arbeitszeit in Österreich nochmals verringern wollten, können wir das System nicht aufrechterhalten.

Wie kann man das ändern?

Man bräuchte flexiblere Arbeitszeiten, damit die Operations-Säle bis zumindest sieben Uhr abends offenbleiben. Ich sehe ja, wie schwer es für Ärztinnen und Ärzte ist nicht über die Höchstarbeitszeit zu kommen, denn dann bekommen sie vom Rektorat einen Verweis, wenn sie zu lange arbeiten. Das ist doch eine Botschaft, die in die falsche Richtung geht. Wenn Jungärzt*innen oder Ärzt*innen in Ausbildung nicht länger arbeiten dürfen, dann lernen sie auch weniger.

Werden die Studenten gut genug ausgebildet? Ist das verschulte System gut genug.

Man bräuchte flexiblere Arbeitszeiten, damit die Operations-Säle bis zumindest sieben Uhr abends offenbleiben. Ich sehe ja, wie schwer es für Ärztinnen und Ärzte ist nicht über die Höchstarbeitszeit zu kommen, denn dann bekommen sie vom Rektorat einen Verweis, wenn sie zu lange arbeiten. Das ist doch eine Botschaft, die in die falsche Richtung geht. Wenn Jungärzte oder Ärzte in Ausbildung nicht länger arbeiten dürfen, dann lernen sie auch weniger.

Ringen Sie mit der österreichischen Realität?

Ich ringe nicht mit der Realität. Für mich ist es wichtig zu beurteilen: Wo ist es Sinn stiftend zu kämpfen und wo nicht?

Sie haben gesagt Sie sehen hochmoderne Medizin, aber auch veraltete Prozesse: Wie kann man das an einem Beispiel beschreiben, wie betrifft das Patientinnen und Patienten?

Wir haben Zugang zu den besten Medikamenten, das ist nicht überall so. Technisch sind wir gut ausgestattet. Wir betreiben moderne Medizin. Was ich mit den Prozessen meinte ist: Dass einige unserer Prozesse und Strukturen in Krankenhäusern besser an den Zeitgeist angepasst werden müssen, zum Beispiel die Erweiterung des tagesklinischen Angebots. Das geht weiter: Welche Spitäler lassen wir offen, welche schließen wir? Wir müssen eine Roadmap haben.

Die Leitspitaldiskussion hat die Landtagswahl mitentschieden: Wie politisch darf so eine Entscheidung sein – sollte so eine Entscheidung nicht von Expertinnen und Experten getroffen werden?

Hundertprozentig richtig! Dass das eine rein politische und nicht medizinisch geleitete Entscheidung wurde, finde ich nicht korrekt.

Wenn Sie entscheiden könnten: Wie würden Sie argumentieren?

Wir brauchen eine Zentralisierung der Medizin. Es geht nicht mehr anders. Wir können nicht mehr, auch für das Wohl der Patientinnen und Patienten, jedes kleine Spital erhalten. Die Menschen glauben, sie bekommen die beste Medizin – aber das ist nicht der Fall. Wenn ich im Jahr zum Beispiel nur ein paar Mal eine Hüft-OP durchführe, bin ich nicht so gut wie Ärzt*innen, die diese OP täglich mehrmals machen. Vielleicht brauchen wir mehr Versorgungsstätten für die Primärversorgung. Aber es braucht die zentralen spezialisierten Spitäler. Es ist schade, dass man nicht mit dem alten Plan des Leitspitals weitergearbeitet hat, weil ja schon Millionen in die Planung investiert wurden. Und auf der anderen Seite müssen wir sparen. Das ist, was ich nicht verstehe. Wir müssen den Menschen besser erklären, dass sie in Zentrumsspitälern für gewisse Erkrankungen eine bessere Versorgung bekommen.

Wie kann man das anhand von Daten argumentieren?

Wenn wir eine adäquate Ergebnis-Überprüfung der Spitäler hätten, dann könnte man das auch anhand der Daten beweisen. Diese Daten haben wir in Österreich aber nicht, ich kann die Spitäler nicht vergleichen.

Hat sich die Situation an der Neurochirurgie nach den internen Streitereien und der OP einer 13-Jährigen beruhigt?

Wir haben eine Reihe von Maßnahmen gesetzt und es ist uns gelungen, die Situation zu beruhigen.

Auch an der Herzchirurgie gab es viel Unruhe und zu lange Wartezeiten.

An der Herzchirurgie gab es in der Vergangenheit einige Themen. Ich setze mein ganzes Vertrauen in die neue Leitung.

Sie haben die Künstliche Intelligenz angesprochen: Viele Mediziner*innen zweifeln daran, man wird weniger Ärzt*innen für die gleiche Arbeit brauchen.

Es geht in die Richtung Künstlicher Intelligenz und neuer Technologien. Für mich ist es wichtig, dass wir bei den Entwicklungen vorne dabei sind und mitarbeiten und dass wir auf die Veränderungen bewusst und aktiv zugehen. Sollten Entwicklungen zu einer Verringerung des Personalbedarfs führen, ist dies ein langsamer Prozess. Da müssen wir uns darauf einstellen und die Mediziner*innen anders auszubilden. Fürchten muss man nur, wenn man sich nicht darauf einstellt und glaubt, diese Entwicklung zieht vorbei. Wir müssen diesen Prozess aktiv gestalten.

Wie geht es mit dem Klagenfurter und Grazer Med Uni-Projekt weiter?

Es geht eher um ein Zusammenarbeits- und Kooperationslevel. Aber momentan reden wir nicht darüber, dass Klagenfurt ein Teil der Med Uni wird.

Worüber möchten Sie noch reden?

Frauenförderung liegt mir besonders am Herzen. Vor allem wünsche ich mir mehr Frauen in Führungspositionen. Die Zusammenarbeit mit der KAGes läuft hervorragend, wir stimmen uns auch eng in den Personalfragen ab. Wo wir auch intensiv zusammen arbeiten, ist das LKH 2040: Unser Kinderzentrum, das Laborzentrum, die Hämatologie und andere, müssen dringend neu gebaut werden. Dafür arbeiten wir mit Land und Ministerium eng zusammen. Wir sind froh, dass wir mit der Planung beginnen können.... Was ich noch sagen möchte: Es ist im letzten Jahr wirklich viel weiter gegangen, viel mehr als ich mir erhofft habe.

Textnachweis: Kleine Zeitung/Norbert Swoboda, Martina Marx und Didi Hubmann, 15. März 2025